15.02.2017 | Frankfurt am Main - Der Europäische Gerichtshof entscheidet bald darüber, ob die deutsche Unternehmensmitbestimmung gegen EU-Recht verstößt. Steht die Mitbestimmung auf der Kippe? Was sind die Knackpunkte? Und wer steckt hinter der Klage? Darüber sprachen wir mit unserem IG Metall-Experten für Mitbestimmungsrecht, Daniel Hay.
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) verhandelt gerade über die deutsche Unternehmensmitbestimmung. Was droht uns dadurch?
Daniel Hay: Im schlimmsten Falle könnte der EuGH entscheiden, dass die Mitbestimmung der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat gegen EU-Recht verstößt. Auf dieser Grundlage müsste das Kammergericht Berlin, das die Klage an den EuGH weiterverwiesen hatte, dann ein Urteil fällen. Das hätte dann zur Folge, dass der Aufsichtsrat des Reisekonzerns TUI, um den es ja in der Klage konkret geht, spätestens mit rechtskräftigem Urteil ohne Arbeitnehmervertreter neu besetzt würde. Dem würden sich dann die meisten Unternehmen anschließen, insbesondere die börsennotierten, indem die Vorstände ein Statusverfahren zur Entfernung der Arbeitnehmervertreter einleiten.
Dann hätten wir nach und nach Aufsichtsräte ohne Arbeitnehmer. Wie realistisch ist die Bedrohung?
Daniel Hay: Dieses Szenario scheint - vorsichtig optimistisch - angesichts des Verlaufs der Anhörung vor dem EuGH Ende Januar vom Tisch zu sein. Die Europäische Kommission etwa hat in ihrer Stellungnahme eine Kehrtwende vollzogen: Anders als noch im letzten Jahr bezeichnete sie die deutsche Arbeitnehmermitbestimmung als "wichtiges politisches Ziel" und "mit dem EU-Recht vereinbar".
Was sind eigentlich die juristischen Knackpunkte? Worauf beruft sich der Kläger?
Daniel Hay: Der Kläger behauptet, dass die deutsche Mitbestimmung die Beschäftigten an anderen europäischen Standorten diskriminiert, da sie ja den Aufsichtsrat nicht mitwählen und auch nicht gewählt werden dürfen. Zum anderen soll die Mitbestimmung die Arbeitnehmerfreizügigkeit beeinträchtigen, wenn etwa Arbeitnehmer aus Deutschland deshalb nicht an einen Standort in einem anderen EU-Land umziehen wollen, weil sie dadurch ihr Wahlrecht verlieren. Das ist natürlich realitätsfern.
Und was sind unsere juristischen Argumente dagegen?
Daniel Hay: Ein Argument ist der Territorialgrundsatz. Kann ein nationaler Gesetzgeber überhaupt seine Gesetze, also hier das Mitbestimmungsgesetz nebst Wahlordnungen, einfach auf andere EU-Länder ausdehnen? Nach Meinung der Bundesregierung und anderer EU-Länder hat der nationale Gesetzgeber nicht die Rechtsmacht, Arbeitnehmer anderer Mitgliedsstaaten in sein Wahlsystem zu integrieren. Der deutsche Gesetzgeber kann nur im eigenen Hoheitsgebiet für die ordnungsgemäße Durchführung von Aufsichtsratswahlen Sorge tragen. Doch vor allem sehen wir die Mitbestimmung als Kulturgut unserer sozialen Marktwirtschaft. Die EU-Kommission hätte es in der Hand, eine Richtlinie zur Unternehmensmitbestimmung zu erlassen. Bislang gibt es auf diesem Gebiet keine europäische Harmonisierung. Die Bundesregierung und sogar die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) sind auf unserer Seite. BDA-Präsident Ingo Kramer hat gemeinsam mit dem DGB-Vorsitzenden Reiner Hoffmann für die Mitbestimmung Stellung bezogen.
Wer ist der Kläger? Was will er? Er behauptet ja sogar, er wolle die Arbeitnehmermitbestimmung "europäisieren" - also ausdehnen...
Daniel Hay: Das ist an den Haaren herbeigezogen und fadenscheinig. Im ursprünglichen Klageantrag hat der Kläger Konrad Erzberger klar gefordert, dass die Arbeitnehmervertreter raus aus dem TUI-Aufsichtsrat sollen. Er zieht gegen die Mitbestimmung ins Feld. Erzberger, Manager der Berliner FinTech Bank Solaris, hat dazu für gerade mal 130 Euro TUI-Aktien gekauft. Seine Argumentation erinnert zudem stark an ähnliche Klagen von Volker Rieble, einem Juristen und bekannten Mitbestimmungsgegner. Rieble ist Präsident des von Metallarbeitgebern finanzierten Zentrums für Arbeitsbeziehungen und Arbeitsrecht (ZAAR). Er schreibt er seit Jahren gegen Arbeitnehmerrechte an, hält Vorträge und berät Unternehmen. Einige Zeitungen behaupten, dass Rieble den Kläger Erzberger unterstützt. Zumindest ist für uns klar: Die beiden wollen bestimmt keine Ausdehnung der Mitbestimmung. Allerdings könnte der Schuss für sie auch nach hinten losgehen...
Was heißt das? Dass Erzberges Klage gegen die Mitbestimmung am Ende sogar der Mitbestimmung nutzt?
Daniel Hay: Der EuGH könnte ja auch tatsächlich zu dem Schluss kommen, dass die deutsche Mitbestimmung auf ausländische Standorte ausgedehnt werden muss. Arbeitnehmer im Ausland würden dann womöglich auch bei den Schwellenwerten deutscher Mitbestimmungsgesetze berücksichtigt. Damit würden zahlreiche Unternehmen plötzlich in den Anwendungsbereich des Mitbestimmungsgesetzes fallen und erhielten einen paritätisch mit Arbeitnehmern besetzten Aufsichtsrat.
Also besteht sogar die Chance, dass wir am Ende sogar mehr Mitbestimmung haben, nämlich Wahlen auch in ausländischen Standorten? In Dänemark und Norwegen gibt es das ja. Warum nicht bei uns?
Daniel Hay: Das fragt auch der in diesem Verfahren eingesetzte Generalanwalt beim EuGH, ein Däne. Allerdings gelten in Dänemark und Norwegen ganz andere Grundsätze. In Dänemark liegt die Organisations- und Durchführungshoheit nicht bei den Beschäftigten. In ausländischen Standorten tätige Arbeitnehmer werden nur dann in die Aufsichtsratswahl einbezogen, wenn die Mehrheit der dänischen Arbeitnehmer dafür stimmt - und wenn vor allem die Hauptversammlung dies beschließt. Ein eigenes Recht auf Beteiligung an den Wahlen im dänischen Mutterkonzern haben die Arbeitnehmer in Tochtergesellschaften im Ausland keineswegs.
Aber insgesamt sieht es doch eher gut für die Mitbestimmung beim EuGH aus?
Daniel Hay: Wir müssen da vorsichtig sein. Es kommt darauf an, dass der dänische Generalanwalt unsere Argumente versteht - und wie er seine Schlussanträge am 4. Mai dieses Jahres formuliert. Der EuGH folgt dem in der Regel. Das Verfahren um die Mitbestimmung haben wir noch lange nicht gewonnen. Zudem müssen wir dafür gewappnet sein, dass ähnliches auch in anderen Rechtsbereichen passieren könnte: Dass Mitbestimmungsgegner versuchen, über die Hintertür von EU-Grundfreiheiten Arbeitnehmerrechte insgesamt zu schwächen.