16.11.2022 | Nach einer anderhalbstündigen Tarifverhandlung am Dienstag, 14. November, hat die IG Metall die zweite Gesprächsrunde mit der Brose Sitech GmbH unterbrochen. Es gab ein Angebot der Arbeitgeberseite, das die Verhandlungskommission der IG Metall fassungslos gemacht hat.
Danach wurden die Gespräche für diesen Tag beendet. Grund genug für die rund 1.600 Beschäftigten jetzt auf dem Gelände von Brose Sitech in der Normal- und Spätschicht zu demonstrieren. Sowohl in Wolfsburg als auch in Emden finden heute zeitgleich mehrere Warnstreikaktionen statt. Die Forderungen der IG Metall lautet: 8 Prozent mehr Geld – tabellenwirksam – bei einer Laufzeit von einem Jahr. Der Arbeitgeber Brose Sitech bietet aber nur eine Einmalzahlung von 500 Euro bei einer Laufzeit von 15 Monaten. Das Angebot beinhaltet keine prozentuale Erhöhung für die Entgelttabelle.
„Völlig unakzeptabel und auch volkswirtschaftlich unverantwortlich“, meint Gewerkschaftssekretärin Felina Bodner vor 350 Beschäftigten bei Brose Sitech in der Normalschicht: „Die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts ist zu mehr als 60 Prozent vom privaten Konsum abhängig. Und als Tarifparteien müssen wir jetzt für eine Stabilisierung der Kaufkraft sorgen. Wir brauchen eine prozentuale Entgelterhöhung um 8 Prozent, damit die Beschäftigten kombiniert mit den Entlastungspaketen der Politik die enormen Kostensteigerungen bezahlen können.“ Bodner begründet die sehr zeitigen Warnstreik-Aktionen und das heftige Auftreten der IG Metall so: „Wir haben unsere Warnstreik-Aktionen kurzfristig organisiert, weil eine Tariferhöhung jetzt bitter nötig ist. So bitter nötig, dass wir sogar schon jetzt demonstrieren, bevor Volkswagen mit den eigenen Warnstreiks beginnt. Das ist unüblich und mutig zugleich und führt dazu, dass der einzige Kunde am Platz nicht mehr mit Teilen beliefert wird. Aber die Arbeitgeberseite nötigt uns förmlich dazu, jetzt auszustehen und zu zeigen, was in uns steckt.“
Die IG Metall denkt weiter: Im Rahmen des Tarifabschlusses soll eine soziale Komponente, zum Beispiel durch eine Energiekosten-Pauschale realisiert werden. Und eine zentrale Forderung ist auch, die Regelung zu zusätzlichen freien Tagen als Wahloption zur Tariflichen Zusatzvergütung zu verbessern: Mehr freie Tage für Mitglieder der IG Metall sind das Ziel. „Auf alle unsere Forderungen sind die Arbeitgebervertreter nicht ernsthaft eingegangen“, so Thilo Reusch, Verhandlungsführer der IG Metall.
Stattdessen forderte die Vertreterin der Arbeitgeberseite, Stefanie Wangemann, die Beschäftigten müssten flexibler arbeiten. Bei einer höheren Flexibilität könne man vielleicht auch ein besseres Angebot machen. Was damit im Einzelnen gemeint sein könnte, wollte sie an diesem Tag nicht sagen. Das werde man der IG Metall zu einem späteren Zeitpunkt mitteilen.
Das Verhalten der Vertreter der Brose Sitech GmbH in der zweiten Verhandlung wird von der IG Metall als Provokation gewertet. Eine Einmalzahlung von 500 Euro war alles, was der Arbeitgeber als Angebot für die Beschäftigten mitgebracht hatte. Im Gegenzug sollen die Beschäftigten für die kommenden 15 Monate auf jegliche Tabellenerhöhung verzichten. Mehr freie Tage für die Mitglieder der IG Metall: Auch hier Fehlanzeige!
Vielmehr sprachen die Arbeitgeber über weitere Gesprächsverpflichtungen: Sie stellen die 100-prozentige Übernahme der Auszubildenden in Frage und reden über eine Öffnung des Manteltarifvertrages. Darüber hinaus wollen sie über Befristungen und über Neuregelungen in der Zeitarbeit sprechen. Alles Dinge: Die aus Sicht der IG Metall nicht Gegenstand der aktuellen Verhandlungen sind.
„Hier hält sich jemand nicht an die Spielregeln. Bestehende Tarifregeln kann man einseitig nicht einfach so zum Verhandlungsgegenstand machen, ohne sie vorher gekündigt zu haben. Frau Wangemann versucht wohl, auf Zeit zu spielen“, so Verhandlungsführer Reusch. „Das ist das deutschlandweit schlechteste Angebot eines Arbeitgebers in der diesjährigen Tarifrunde. So geht ein verantwortungsvoller Arbeitgeber nicht mit seinen Beschäftigten um.“
Wissam Harb, Gesamtbetriebsratsvorsitzender von Brose Sitech, macht deutlich: „Der Frust und der Zorn über die Lohnblockade von Brose Sitech ist gewaltig. Das, was uns angeboten wurde, ist an Dreistigkeit nicht mehr zu toppen. Die Friedenspflicht ist abgelaufen. Jetzt gilt es für die IG Metall zu handeln. Unsere kampferprobte Belegschaft weiß, worum es geht und zeigt jetzt worauf es ankommt. Unsere heutigen Warnstreiks sind nur ein erster Vorgeschmack darauf, was die Arbeitgeber erwartet, wenn sie in der nächsten Tarifverhandlung kein deutlich verbessertes substanzielles Angebot vorlegen.
Flavio Benites, Erster Bevollmächtigter der IG Metall Wolfsburg, sagt: „Ein gutes Ergebnis können wir erzielen, wenn wir gemeinsam an einem Strang ziehen: Volkswagen, Volkswagen-Töchter und die Metall- und Elektroindustrie. Ziel ist es, mit einer kräftigen und dauerhaften Tariferhöhung der monatlichen Einkommen die Kaufkraft der Beschäftigten zu sichern und Teile des wirtschaftlichen Erfolgs umzuverteilen. Denn: Wer die Preise kennt, fordert 8 Prozent.“
Marcus Festerling, Jugendsekretär der IG Metall Wolfsburg, erklärt auf der Bühne, dass sich die Arbeitgeber in der aktuellen Auseinandersetzung offensichtlich für nichts zu schade sind: „Die Arbeitgeber stellen sogar die Übernahme der Auszubildenden in Frage“, sagt Festerling. „Das ist schäbig. Als Gewerkschaft sprechen wir über den Fachkräftemangel und die Arbeitgeber machen die Auszubildenden von Brose Sitech zum Spielball in den aktuellen Tarifverhandlungen. Das ist unerträglich.“
Der Haustarifvertrag bei Brose Sitech ist bereits am 30. September abgelaufen, Warnstreiks sind also schon seit dem 1. Oktober möglich. Da bisher kein dritter Verhandlungstermin vereinbart wurde, sind weitere Protestaktionen der Beschäftigten in Wolfsburg und Emden geplant.
In der Fläche laufen die Tarifverhandlungen in die heiße Phase. Die Beschäftigten legen deshalb im großen Stil die Arbeit nieder und befinden sich in Warnstreiks. Alleine im IG Metall Bezirk Niedersachsen und Sachsen-Anhalt nahmen in den letzten Tagen mehr als 30.000 Kolleginnen und Kollegen an über 300 betrieblichen Aktionen teil. Bei Volkswagen sind Warnstreiks ab dem 1. Dezember möglich, in der letzten Woche gab es aber bereits eine große Aktion an der Volkswagen Arena vor der zweiten Tarifverhandlung. Auch eine Delegation von Brose Sitech-Beschäftigten war solidarisch mit vor Ort.