Wir besuchen Karl-Heinz Tiede

Die Zeit im Blick

Einmal in der Woche - „das ist eine Zeremonie“ - werden die mechanischen Uhrwerke aufgezogen bzw. die Gewichte wieder in ihre Ausgangspositionen gebracht. Damit die Federkraft bzw. die Schwerkraft die Uhrwerke wieder für eine weitere Woche in Bewegung setzen kann, wird diese Kraft getastet und durch ein Pendel eingebremst. Je länger das Pendel ist, desto anstrengender wird es für die Uhr, sich zu drehen und die Zeit verrinnt langsamer. Je nach Temperatur, Jahreszeit, Luftfeuchtigkeit usw. verziehen sich die alten Holzgehäuse und Uhrwerke mehr oder weniger und verlieren damit ihre Genauigkeit. Also wird jedes Pendel einmal wöchentlich per Einstellschraube und mit viel Augenmaß, Erfahrung und Feingefühl ein wenig gekürzt oder verlängert um alle angezeigten Uhrzeiten mit der Mutteruhr im Keller zu synchronisieren.

Karl-Heinz Thiede (Kalle) inmitten seiner Uhren

Velpke bei Wolfsburg. Mehr als die Volksschule war für Kalle nicht drin. Nur bei zwei Mitschülern konnten es sich deren Eltern leisten, die „Bauernbuben“ auf eine weiterführende Schule zu schicken. Die anderen Kinder mussten nach dem Schulabschluss arbeiten oder begannen eine Ausbildung. Kalle ging nach Braunschweig beim Pressegrossisten Salzmann in die Lehre, wurde Großhandelskaufmann und natürlich Mitglied in der damaligen Angestelltengewerkschaft, der DAG. 

Sport war nichts für Kalle, dazu fehlten die körperlichen Voraussetzungen. Also wandte er sich sich schon früh Tieren zu. Bereits als Kind hatte er seine ersten Tauben, als Jugendlicher seinen eigenen Brieftauben-Schlag über der elterlichen Garage und schließlich über 30 Jahre lang auf dem Dachboden seines eigenen Hauses eine erfolgreiche Brieftaubenzucht - bis die „Vogelhalterlunge“ bei ihm diagnostiziert wurde und er das Hobby Ende der siebziger Jahre „von heute auf morgen“ aufgeben musste. 

Als Ausgelernter (1956) betrug sein Entgelt bei Salzmann 150 Mark im Monat. Die frühen Arbeitszeiten verlangten einen Braunschweiger Schlafplatz. 120 Mark seines Verdienstes musste er für die Miete eines Bettes im 12er-Schlafraum des Kolping-Heims bezahlen, der restliche Lohn reichte kaum zum Leben. 1957 fing er in Wolfsburg bei Volkswagen in der Montage an, verdiente dort rund das dreifache wie in Braunschweig und konnte darüber hinaus auch weiter zuhause in Velpke wohnen. Und er wechselte in die IG Metall, in der bis heute Mitglied ist.

„Hinter der Sache der Gewerkschaften stehe ich voll und ganz. Wer da nicht mitmacht ist nur ein Trittbrettfahrer.“

Sein gewerkschaftlicher Einsatz für die Kolleg*innen bringt ihm den Ruf eines Querulanten ein. Mit dem Ergebnis, dass er in den nächsten Jahren bei Versetzungen und Beförderungen außen vor und in der Montage am Band bleibt.

Ein Freund von ihm sammelte alte Wand- und Standuhren und musste, als seine "häusliche Dreieinigkeit" aus Ehefrau und Töchtern entschieden hatte fortan Puppen zu sammeln, das Sammeln von Uhren aufgeben. Die schönen Holzgehäuse und deren Restauration reizten Kalle, der einige Uhren als Grundstock seines neuen Hobbys erwarb. Zu den anfänglich Restaurierungen der Gehäuse kam irgendwann das Verlangen, auch die Mechaniken wieder schön und funktionsfähig zu machen. So eignete er sich in den nächsten 30 Jahren viel Wissen und praktische Fertigkeiten an. Mechanik muss gepflegt werden.

Die Arbeit am Band ist körperlich fordernd und sein Körper ruiniert, als er nach fast 30 Jahren endlich an einen altersgerechten Arbeitsplatz in die Materialwirtschaft versetzt wird. Er macht sich gut dort in der Logistik und soll zum Unterabteilungsleiter befördert werden. Doch parallel zur Beförderung wird ihm der Renteneintritt angeboten. Mehr Verantwortung und mehr Entgelt oder weniger Rente und mehr Zeit? Er entscheidet sich für die Zeit und gegen das Geld. Die richtige Entscheidung, wie er dreißig Jahre später feststellt.  

„Ich brauche eine Aufgabe. Wenn ich nichts Sinnvolles machen kann, kann ich mich und andere nicht leiden.“

Er öffnete sein Haus als Museum, seine zwischenzeitlich etwa 350 Exponate umfassende Sammlung für Besucher*innen, die mitunter in Bussen aus dem Umland angereist kamen, um die Uhren zu sehen und seinen Geschichten dazu zu lauschen. „Ohne Eintritt und ohne Kaffeekasse“, betont Kalle. Er will kein Geld für sein Engagement. Ihm geht es immer darum, etwas an die Gemeinschaft, an die Welt zurückzugeben. Auch weil er sich selber als reich beschenkt empfindet: „Ich habe so viele interessante Leute kennengelernt - das war eine wunderschöne Zeit!“.

Bis die Kreissäge mit seinem Zeigefinger kollidierte. Der Finger ist noch bzw. wieder dran, aber die Motorik hat gelitten. Und ohne Feinmotorik kann er seine Uhren nicht mehr angemessen warten und unterhalten. Also wird das Museum geschlossen, die prächtige Uhrensammlung aufgelöst; die meisten Stücke werden verkauft, nur einige „wenige“ (es sind wohl immer noch mehr als 30) Lieblingsstücke bleiben und wieder braucht Kalle ein neues Hobby.

„Meine Generation und die davor hat viel kaputtgemacht. Ich möchte ein bisschen davon wieder gut machen.“

Seine Frau betreut ehrenamtlich den Friedhof im Ort. Nachdem dort bei Pflegearbeiten Bäume und Sträucher gekappt werden, fürchten seine Enkel um die vielen Vögel, die dort brüteten. Also baut er aus Restholz erste Nistkästen und beginnt, diese auf dem Friedhof aufzuhängen - zunächst noch gegen Widerstand. Aber schließlich erklärt sich die Kommune bereit, für die dauerhafte Pflege der Nistkästen aufzukommen. 

Für die Verteilung weiterer Nistkästen sucht sich Kalle Partner*innen, denen er die Nistkästen schenkt, damit sie im öffentlichen Raum aufgehängt werden. Zur Zeit hat er ca. 800 Nistkästen für den NABU und andere Umweltschutzorganisationen gebaut, die jetzt im öffentlichen Raum, in Parks und auch im Biosphärenreservat hängen. Gebaut aus Restholz, welches er andauernd sucht. Recycling ist das Gebot der Zeit. 

Kalle sucht:

Bretter aus Massivholz (ca. 2cm stark)

Karl-Heinz Tiede - Kalle
05364-3804