Schlaglichter - Gewerkschaftsentwicklung in Brasilien

Brasilianische Gewerkschaften nehmen ihren Anfang

Brasilien ist kein armes Land, sondern ein ungerechtes und ungleiches Land, mit vielen Armen. Das große Ausmaß an Armut ergibt sich an erster Stelle aus der immensen Ungleichheit bei der Einkommensverteilung und den Möglichkeiten der sozialen und wirtschaftlichen Eingliederung.
(Wirtschaftsforschungsinstitut IPEA, Juni 2001)

Die Weichen für die heutige Arbeit der Gewerkschaften in Brasilien wurden in den 30er Jahren gestellt. Es entstand eine bürokratische Gewerkschaftsorganisation, die komplett in das autoritäre staatliche System integriert war. Die traditionellen Gewerkschaften waren direkt dem Arbeitsministerium unterstellt. Die Geschäftsführung konnte bei Nichtgefallen sofort ausgetauscht werden, oft verbunden mit polizeiliche und politische Repressionen.

Die materiellen Voraussetzungen für Gewerkschaftsarbeit waren denkbar schlecht. Die lokalen Gewerkschaften konnten sich zwar zu Föderationen zusammenschließen, in denen aber jede Gewerkschaft ohne Rücksicht auf die Mitgliederzahl nur eine Stimme hatte. Die Arbeiter waren nach Regionen und Kategorien getrennt organisiert. Das bedeutete, dass jede Berufsgruppe in jedem Betrieb eine eigene Gewerkschaft hatte und sich somit zahlreiche Einzelgruppen ergaben. Durch diese Zersplitterung war eine organisierte Interessenvertretung nicht möglich.

Mitte der 60er Jahre entstand aufgrund der hohen Konjunkturschwankungen ein chronisches Beschäftigungsproblem. Neue, kämpferische Gewerkschaften gründeten sich und erste Streiks fanden statt. Allerdings waren die Gewerkschaften, die geschwächt durch die jahrzehntelange Unterdrückung waren, nicht in der Lage, die Arbeitnehmer landesweit zu gemeinsamen Aktionen zusammenzuführen.

Durch den Militärputsch im Jahr 1964 wurden die neuen Gewerkschaftsansätze mit brutaler Gewalt völlig zerschlagen, die schlimmsten Militäreinsätze fanden von 1968 bis 1974 statt. Es erfolgten eine äußerst restriktive Handhabung der Gewerkschaftsgesetze und gewalttätige Militäreinsätze gegen Studenten und Arbeiter.

Oppositionsbewegung entwickelt sich


Ab Mitte der 70er Jahre kam es zu einer Lockerung und eine Oppositionsbewegung entwickelte sich.. Es entstanden authentische (vom Staat unabhängige) Gewerkschaften. Aus der Gewerkschaftsbewegung heraus entstand 1978 der Entschluss, eine neue Arbeiterpartei, die PT (Partido dos Trabalhadores), zu gründen. Sie wurde von Gewerkschaftern aus der Umgebung von Sao Paulo gegründet, eine herausragende Person war Luis Inacio da Silva ("Lula"), der mehrfach erfolglos für das amt des Staatspräsidenten kandidierte.

Die unabhängigen Gewerkschaften riefen ab 1978 zu ersten Streiks in Sao Paulo auf, die 1980 in einem 41-tägigen Streik in der Automobilindustrie ihren Höhepunkt fanden. Die Streikenden mussten von einem illegalen Streikfonds leben und waren auf Spenden, eine warme Suppe der Kirche und noch verdienende Familienmitglieder angewiesen. Arbeitskämpfe waren illegal und Streikführer wurden vielfach verhaftet. Reichte das nicht aus, so wurde die ganze Streikregion unter Kriegsrecht gestellt und Versammlungen außerhalb kirchlicher Räume wurden von schwer bewaffneten Einheiten der Militärpolizei gewaltsam aufgelöst. Von 1979 bis 1982 fand bei Volkswagen eine Entlassungswelle statt, von der viele aktive Gewerkschafter betroffen waren. Bei VW existierte ein gut ausgebautes Sicherheitssystem, dem zwei ehemalige Militärs und 60 Polizisten angehörten sowie eine Fernsehüberwachung.

Gewerkschaftlicher Dachverband CUT wird gegründet

Auf dem nationalen Arbeiterkongress wurde 1983 die Gründung eines gewerkschaftlichen Dachverbandes beschlossen und die CUT (Central Unica dos Trabalhadores) entstand. Einen Tag nach der Gründung wurde die CUT vom damaligen Arbeitsminister als illegal erklärt, da bis 1988 eine Gewerkschaft die ausdrückliche Autorisierung durch den Arbeitsminister benötigte. Somit musste die CUT die ersten Jahre "im Untergrund" arbeiten. Große Unterstützung erhielt sie von der katholischen Kirche, die beispielsweise Räume für Versammlungen zur Verfügung stellte. Finanzielle Hilfe gab es auch immer wieder von den deutschen Gewerkschaftern. 1985 schickte die IG Metall Wolfsburg ein Telegramm an Mario dos Santos Barbosa, den Vorsitzenden der brasilianischen Metallarbeitergewerkschaft "Zur Unterstützung Eurer berechtigten Forderungen und als solidarische Hilfe haben wir heute, 21.Mai 1985, eine Streikspende in Höhe von 23.377,00 DM an Euch überwiesen. Das Geld wurde bei den Vertrauensleuten der IG Metall im Volkswagenwerk Wolfsburg gesammelt. Wir hoffen, dass Ihr Euren Arbeitskampf erfolgreich führen werdet."

Die heftigen Militäreinsätze bei Streiks setzten sich auch Mitte der 80er Jahre weiter fort. Bei einem mit Hilfe der CUT organisierten Streik der Landarbeiter, der 1985 in der kleinen Stadt Sertaozinho stattfand, fanden dramatische Szenen statt . "Im Morgengrauen ist die Stadt von Spezialeinheiten der Militärpolizei besetzt. Sie beginnen bei den Streikposten mit Gewalttätigkeiten. Dann dringen sie in die Hütten ein, zertrümmern die Türen, schlagen auf einen bettlägerigen Mann ein, stoßen und schlagen die, die schon auf der Strasse sind. Sie wecken das Volk auf mit Schlägen und Tritten. Eine hochschwangere Frau wird zusammengeschlagen und ein junger Mann mit Schlägen auf Nase und Kopf schwer verletzt." (ein Landarbeiter, in: "Machen wir uns auf den Weg - Schritte zur internationalen Solidarität von brasilianischen und deutschen Gewerkschaftern")

Während der gesamten 80-er Jahre übernahm die CUT eine führende Rolle. Sie wurde mit ca. 2800 Mitgliedsgewerkschaften zum größten brasilianischen Dachverband.

Die CUT betonte den Basisgedanken und forderte Direktwahl in sämtlichen gewerkschaftlichen Funktionen durch die Mitglieder. Ihr Selbstverständnis bestand darin, Teil einer breiteren sozialen Bewegung zu sein, die nicht allein auf industrielle Beziehungen konzentriert ist und die bestehenden Macht- und Gewerkschaftsstrukturen verändern will. Ziele von CUT waren u.a., die Zahl der Einzelgewerkschaften zu verringern und an der Basis neuere und repräsentativere Gewerkschaften zu schaffen.

Die Entstehung und das schnelles Erstarken von CUT sind Ergebnis der großen Streiks und Demonstrationen der Arbeiter in Brasilien am Ende der 70-er und Anfang der 80-er Jahre. Diese Kämpfe brachten die Militärdiktatur zum Wanken und bildeten den Anfang einer Entwicklung, die wenige Jahre später zu ihrer Niederschlagung führte.

Interessenvertretung bei Volkswagen do Brasil durch Fabrikkommissionen

Die "Volkswagen do Brasil Ltda." gibt es bereits seit 1953, 1959 stieg sie zum größten brasilianischen Automobilhersteller auf. 1980 hat VW in Brasilien die erste Arbeitervertretung wählen lassen, allerdings ohne gewerkschaftliche Beteiligung. Das VW Management verweigerte die Anerkennung der freien Metallgewerkschaft als Tarifpartner. Die Metallgewerkschaft rief zum Wahlboykott auf, dem sich 90 Prozent der Arbeiter anschlossen. Zwei Jahre später wurde bei Volkswagen eine Fabrikkommission (Commissiones de fabricia) gewählt, bei der die Gewerkschaften zumindest einige Forderungen durchsetzen konnten. Fabrikkommissionen sind betriebsratsähnliche Vertretungen, die jedoch nicht auf einer Gesetzesgrundlage beruhen, sondern zwischen Gewerkschaften und Unternehmen ausgehandelt werden. Sie werden zwar gewählt, haben aber keine Mitbestimmungsrechte. Die Fabrikkommission ist eher eine Anhörungsstelle für Beschwerden, über die dann mit der Personalabteilung verhandelt wurde. Diese akzeptierte jedoch nur wenige Bagatellfälle, der Rest wurde auf die lange Bank geschoben. Häufig wurden Kommissionsmitglieder auch von der Werkspolizei und der Personalabteilung unter Druck gesetzt.

Der längste Metallarbeiterstreik "Wilde Kuh"

Der längste Metallarbeiterstreik in der Geschichte Brasiliens fand 1985 statt. Mehr als 85 000 Automobilarbeiter, insbesondere in den Werken von Volkswagen, Mercedes Benz, General Motors, Ford und Saab-Scania streikten für vierteljährliche Lohnangleichungen. Damit sollten die drastischen Preissteigerungen von weit über 200 % jährlich ausgeglichen werden. Gleichzeitig wollten die Gewerkschaften die wöchentliche Arbeitszeit von 48 Stunden in einem Stufenprogramm auf 40 Stunden senken. Ein normaler Arbeitstag bestand aus 9,5 Stunden, verbunden mit einem ständigen Druck auf Überstunden. Dazu benötigte ein brasilianischer Arbeiter im Durchschnitt täglich drei Stunden für An- und Abreise zum Betrieb.

Am 11. April begann der von der CUT organisierte Streik "Wilde Kuh", so genannt wegen seiner flexiblen Taktik. Angeführt von Automobilarbeitern traten rund 300 000 Arbeiter in den Ausstand. Die Automobilindustrie insbesondere GM do Brasil, VW und Mercedes zeigten, in dieser Auseinandersetzung völlige Härte und zog alle Register, die die brasilianischen Gesetze zuließen. GM do Brasil beispielsweise veröffentlichte täglich 60 Namen von Kolleginnen und Kollegen auf Plakaten, die ab diesem Zeitpunkt entlassen waren. Durch diese Taktik sollte eine Zermürbung und ein Auseinanderbrechen der streikenden Arbeiter erreicht werden. Der Streik ist nach 53 Tagen im Juni 1985 zu Ende gegangen. Mehr als 2.500 Beschäftigte der Automobilindustrie, darunter viele Gewerkschaftsaktivisten wurden während des Streiks entlassen. Er wurde beendet, ohne dass es für einen Grossteil der Streikenden eine Verbesserung ihrer Lohn- und Arbeitssituation gebracht hat. Kompromisslösungen wurden lediglich bei kleinen und mittleren Betrieben erreicht.

(April 2005)